Ungewisser als ein Blitz
Der "Fall Ticona" macht die Debatte um den Flughafen Ausbau zum statistischen Verwirrstück

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 28. September 2003


Bericht von Helmut Schwan

Frankfurt. 10-6, 10-4 oder einmal in 600 Jahren? Die ursprünglich politische, ökologische und für viele Anwohner auch das persönliche Wohlbefinden bedrängende Frage, ob der Frankfurter Flughafen ausgebaut werden soll, droht in einem Zahlenwirrwarr zu versinken. Das Thema Nachtflugverbot jedenfalls ist mittlerweile von der Diskussion, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, ob beim Anflug auf die geplante Landebahn eine Maschine auf das Chemiewerk Ticona bei Kelsterbach stürzen könnte, in den Hintergrund gerückt worden. Und je mehr davon durchsickert, wie unterschiedlich die Experten der Technischen Überwachungsvereine, der Institute und der Kommissionen das Risiko einschätzen, desto unschärfer wird das Szenerie vom worst case mit womöglich Hunderten Toten und Wolken hochgiftiger Chemikalien. Zehn hoch minus sechs steht für die Prognose, dass sich binnen einer Million Jahre ein solches Unglück zutragen könnte - das wäre ein Risiko, wohl deutlich geringer als die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden. In den Unterlagen des Flughafen-Betreibers Fraport findet sich diese - Entwarnung signalisierende - Kennziffer für den Sektor der sensibelsten Produktionsflächen, wo unter anderem hochexplosives Methanol verarbeitet wird. Für den Nord-Zipfel des Firmengeländes, unmittelbarer in der Einflugschneise, liegt der Wert bei zehn hoch minus vier. Ein Unglück in 10.000 Jahren, da rückt indes die rote Zone schon nahe: Aus der Sicht von Christian Jochum, dem Vorsitzenden der Störfall-Kommission, wäre dieser Wert kaum mehr akzeptabel (siehe Interview).

Entscheiden über die Ausbaupläne und damit auch über die Schlüssigkeit der Risikoanalysen muss zu nächst das hessische Wirtschaftsministerium, das letzte Wort haben später die Gerichte. Mittlerweile liegen mindestens sechs Gutachten mit sechs zum Teil sehr deutlich voneinander abweichenden Zahlen vor. Jede Expertise liest sich für den interessierten Laien beeindruckend - nicht zuletzt aufgrund imposanter Formeln (siehe Ausriss aus dem Gutachten des TÜV Hessen). Ob sie indes jemals auf einen gemeinsamen Nenner oder wenigstens auf einen von den meisten Sachverständigen akzeptierten Mittelwert zu bringen sind, erscheint gegenwärtig höchst ungewiss. Zu unterschiedlich sind vor allem Annahmen zu gefährdeten Gebieten, zu der Zahl der möglichen Betroffenen und zu der eigentlichen Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes heutzutage in Mitteleuropa bei modernster Leittechnik überhaupt sein mag. Dabei verwundert, dass im vermeintlich überregulierten Deutschland Richtwerte fehlen. Parameter aus der Schweiz, den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und Großbritannien müssen daher zu Rate gezogen werden.

Zu diesem internationalen Hintergrund passt, dass inzwischen auch die Europäische Kommission eingeschaltet ist. Gegner, des Flughafenausbaus hatten vor einigen Wochen den Fall vorgetragen. Umweltkommissarin Willström hat eine Prüfung nach der Seveso-II-Richtlinie zugesagt, wie es ihre Pflicht ist, wenn sich besorgte Bürger an Brüssel wenden. Im Wiesbadener Wirtschaftsministerium hofft man derweil, mit einer "Qualitätssicherung" die Verwirrung begrenzen zu können. Letztlich läuft das freilich auf weitere Expertisen hinaus, deren Charakterisierung als Obergutachten ebenfalls nur ein Urteil unter mehreren sein wird. Dass Ende des Jahres, wenn auch die Störfall-Kommission eine Empfehlung abgeben will, ein Ergebnis feststeht, darf daher bezweifelt werden.

Während der Fall europaweit Wellen schlägt, wissen die bisher verträglichen Nachbarn in Kelsterbach nicht so recht, wie sie sich zueinander stellen sollen. Bei Ticona, einer Tochter des Celanese-Konzerns, schlägt man inzwischen moderatere Töne an. Als entschiedener Ausbaugegner mag man nicht gelten, die Bedeutung des Flughafens für den Wirtschaftsstandort im eigenen Interesse sei sehr hoch einzuschätzen, heißt es.

Sehr zurückhaltend hat bisher Fraport reagiert, jedoch Vorwürfe zurückgewiesen, das Chemiewerk sei überhaupt nicht in die Planungen einbezogen gewesen. Je stärker die Ausbaugegner die Karte Ticona spielen, desto lauter wird beim Flughafenbetreiber, wenngleich noch hinter den Kulissen, die Frage gestellt, warum diese Bedenken nicht schon in den vergangenen Jahrzehnten erhoben worden seien, als die Fabrikationsstätten zweimal mit Genehmigung des Ministeriums erweitert wurden.

Schließlich werde das Werk nicht nur seit Jahren von großen Maschinen in Richtung Nordamerika überflogen (eine Belastung, die mit der Landebahn deutlich reduziert würde), sondern in unmittelbarer Nähe verliefen auch die ICE-Trasse und die Autobahn - aus der Sicht der Fraport Gefahrenquellen mindestens gleichen Ausmaßes.

Das Risiko mag am Ende einzuschätzen sein, die Technik freilich und die Menschen, die sie bedienen, lassen sich nicht vollends beherrschen. Oder um es mit einem langjährigen Kenner der Luftfahrt zu sagen: "Ein Absturz in einer Million oder in 600 Jahren - beides kann morgen sein".

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